Stationäre psychiatrische Versorgung in Zeiten von Corona: Nach dem Shutdown steigt die Nachfrage

Physical Distancing bedeutet auch, dass Besuche und bestimmte Therapien nicht möglich sind. Welche Konsequenzen dies für die psychiatrische Versorgung hat, beantwortet Prof. Dr. André Nienaber vom Fachbereich Gesundheit im Interview.  

Herr Prof. Nienaber, was bedeuten die Covid-19-Regeln für die Kliniken?
Physical Distancing wirkt sich negativ auf die Therapie aus. Stationäre Behandlungsangebote – einschließlich der Möglichkeiten zur Teilhabe wie beispielsweise Werkstätten für Menschen mit Behinderung, in denen auch Menschen mit psychischen Erkrankungen beschäftigt sind – stehen nur eingeschränkt oder gar nicht zur Verfügung, auch Tageskliniken sind geschlossen. Ambulante psychiatrische Pflege gibt es nur zum Teil, Gruppentherapien aktuell gar nicht mehr, ebenso keine gemeinsamen Aktionen und Angebote, die aber für eine erfolgreiche Therapie wichtig sind. Dies hat Auswirkungen auf das Zusammengehörigkeitsgefühl der Patienten untereinander, aber auch auf die Zusammenarbeit im Rahmen von Behandlung und Therapie: Gerade die Gestaltung einer vertrauensvollen Beziehung ist in einer psychiatrischen Behandlung und auch in der psychiatrisch-pflegerischen Versorgung ein entscheidendes Element. Wegen der Abstandsregelungen ist es aber schwer, eine vertrauensvolle Beziehung herzustellen.

 

Zum Therapieprogramm gehören auch temporäre Beurlaubungen. Wie funktioniert das jetzt?
Ich würde hier lieber von Belastungserprobungen statt von „Beurlaubungen“ sprechen – diese sind den stationär behandelten Patienten aktuell nicht erlaubt, weil damit ein erhöhtes Risiko für eine Infektion und damit eine Verbreitung des Virus verbunden ist. Diese Erprobungen sind aber sehr wichtig, damit die Patienten wieder einen Bezug zu ihrem gewohnten Leben bekommen und prüfen können, ob sie in ihrem Alltag zurechtkommen oder wobei sie noch Unterstützungsbedarf haben. Mit den Lockerungen werden die Kliniken vor der großen Herausforderung stehen, dieses Risiko einzuschätzen und damit umzugehen. Auch in dem Bewusstsein, dass ein positiv getesteter Patient dazu führen wird, dass die Lockerungen zurückgenommen und die Einschränkungen sofort wieder notwendig werden. Entsprechende Maßnahmen müssen den Patienten und Angehörigen erklärt und auch begründet werden. Das geht mir ja selbst auch so. Wenn ich weiß, dass Händewaschen und die Einhaltung der Abstandsregelung mich selbst schützen, halte ich mich viel eher daran und achte auch darauf.

 

Zu den Regeln gehören auch Besuchseinschränkungen. Sind die nicht auch kontraproduktiv?

Absolut. Soziale Kontakte sind für uns alle sehr wichtig, und gerade bei Menschen in einer akuten Krise oder mit der Diagnose einer psychischen Erkrankung kann deren Bedeutung gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Ein aktueller Kommentar in der Zeitschrift „The Lancet Psychiatry“ des Royal College of Psychiatrists geht davon aus, dass es aufgrund der Pandemie zu einer Zunahme von suizidalem Verhalten kommen und dass dies auch noch einen längeren Zeitraum nach der Überwindung der Pandemie anhalten wird. Vor diesem Hintergrund ist ein besonderer Blick auf die Suizid-Prävention zu legen. Kliniken sollten ihre Mitarbeiter darauf vorbereiten und dazu weiterbilden. Ein Fokus sollte darauf liegen, Suizidalität zu erkennen. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit für die Kliniken, entsprechende Behandlungspfade vorzuhalten oder diese zu entwickeln. Die Prävention von Suizidalität ist eine wichtige Aufgabe aller an der Behandlung beteiligten Berufsgruppen, wobei Pflegefachpersonen unbedingt mit einbezogen werden müssen. Sie haben oftmals einen engen Kontakt zu den Patienten.

 

Experten prophezeien die Zunahme an psychischen Erkrankungen. Das hat doch dann auch Auswirkungen auf die stationäre Versorgung.

Ja, um eine Infektionsgefährdung zu reduzieren, sind die Kliniken aktuell angehalten, nur noch Notfallbehandlungen durchzuführen und Patienten mit akuten Krisen aufzunehmen. Ich bin mir sicher, dass wir mit einer zunehmenden Öffnung und der Wiederaufnahme des „normalen“ Betriebes in den Kliniken mit einer verstärkten Nachfrage nach Behandlungsangeboten rechnen müssen, da auch ein hoher Bedarf an psychosozialer Versorgung besteht. Allein schon deshalb, weil es Menschen gibt, die aufgrund der Pandemie ihren Arbeitsplatz verloren haben, die in den Heimen seit Wochen keinen Besuch hatten, die durch die Schließung von Werkstätten ihre übliche Tagesstruktur verloren haben oder die trotz ihrer Erkrankung bisher auf eine Behandlung verzichtet haben.

 

Können sich die Kliniken auf den erhöhten psychosozialen Versorgungsbedarf und die Inanspruchnahme entsprechender Leistungen einstellen?
Ja, indem sie zum Beispiel zusätzlich telefonische Beratung anbieten oder entsprechende Hotlines einrichten, an die sich die Menschen wenden können. Auch Online-Angebote sollten sie ausweiten. Hier zeigt sich allerdings, dass Deutschland insgesamt einen Aufholbedarf im Hinblick auf das Angebot und die Nutzung von digitalen Medien auch im Bereich der Gesundheitsversorgung hat.

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