Perspektivwechsel für angehende Ingenieur*innen

Technologien ethisch hinterfragen und sich ihrer eigenen Verantwortung als Ingenieur*in bewusst werden – darum geht es im Seminar „Technik und Gesellschaft“ von Dr. Petra Michel-Fabian für Masterstudierende der Elektrotechnik und Informatik. Im Interview erklärt die Dozentin für Angewandte Ethik, warum es wichtig ist, im technischen Bereich eine gesamtgesellschaftliche Perspektive einnehmen zu können.  

Frau Michel-Fabian, was hat Angewandte Ethik mit Ingenieurwissenschaften zu tun?

Angewandte Ethik durchdringt im Prinzip alle Fachbereiche und Disziplinen. Das ist vergleichbar mit Mathematik: Man kann sich entweder ausschließlich mit Mathematik beschäftigen oder man verwendet Teilaspekte in anderen Disziplinen, wie lineare Algebra in der Informatik. Ich biete daher Veranstaltungen zur Angewandten Ethik in ganz unterschiedlichen Studiengängen der FH Münster an, zum Beispiel Oecotrophologie, Betriebswirtschaft und Wirtschaftsingenieurwesen. In der Elektrotechnik und Informatik sprechen wir über alles, was passiert, wenn wir Technik in die Gesellschaft tragen. Die Auswirkungen können entweder Menschen betreffen oder auch die Umwelt. Im Mittelpunkt steht die Frage: Was ist meine individuelle Verantwortung als Ingenieur*in und wie kann ich ihr gerecht werden?

 

Wie kann man eine Antwort auf diese Fragen finden?

Die Studierenden suchen sich in Kleingruppen selbst ein fachspezifisches Thema, das sie interessiert. Im aktuellen Wintersemester waren das beispielsweise die Corona-Warn-App oder autonomes Fahren. Im Laufe des Semesters reichern sie ihr Thema von Woche zu Woche durch neue Erkenntnisse an. Ich lehre dazu einen Vier-Schritt-Ansatz. Zuerst üben wir die Wahrnehmung: Was ist der Fall und inwiefern ist das ethisch relevant? Im zweiten Schritt geht es um den Perspektivwechsel: Was ist die gesellschaftliche Sicht? Im dritten Schritt behandeln wir ethische Theorien, die helfen, den Fall zu beurteilen. Abschließend fällen wir ein Urteil und entscheiden, wie wir handeln. Es geht darum, die normative Ebene einer Technologie wissenschaftlich zu übersetzen.

 

Was heißt das konkret?

Faktenwissen ist die eine Seite, normative Prämissen, also richtungsweisende Annahmen, sind die andere Seite. Die Studierenden sind am Ende ihres Studiums Fachexperten für Technologien der Elektrotechnik oder Informatik, aber für eine ethisch gute Beurteilung müssen sie das Faktenwissen mit Wertentscheidungen verbinden können. Damit dies nicht subjektiv beliebig geschieht, lernen sie, ethische Grundprinzipien zu berücksichtigen.

 

Welche sind das?

Auf einer, wie man als Ethikerin sagt, mittleren Ebene sind das die vier Prinzipien Autonomie, Nichtschaden, Wohltun und Gerechtigkeit.

 

Das sind ziemlich viele Ansprüche an eine Technologie.

Ethik kann eben anstrengend sein (lacht). Diese Erkenntnis haben die Studierenden meist auch am Ende der Veranstaltung. Dazu kommt, dass wir interdisziplinär arbeiten und erst einmal eine gemeinsame Sprache entwickeln müssen. Auch für mich bedeutet das, dass ich meine Komfortzone verlassen muss. Wenn wir diskutieren, kommen Themen auf mich zu, die ich nicht kenne. Ich bin schließlich keine Ingenieurin.

 

Wie kommt die Veranstaltung bei den Studierenden an?

Am Anfang empfinden einige das Modul als regelrechte Zumutung. Das stimmt auch in gewisser Weise: Wir muten den Studierenden etwas zu, und sie entwickeln Mut, eine neue Sichtweise einzunehmen. Ihre Ergebnisse reflektieren sie abschließend in einem Portfolio. Es ist jedes Mal wieder spannend zu sehen, wie inhaltsschwer sich die Studierenden darin teilweise mit ihren Projektthemen auseinandersetzen. 

 

Ausschnitte ihrer Auseinandersetzung präsentieren die Studierenden auch traditionell zum Semesterabschluss in öffentlichen Vorträgen. Warum eigentlich?

Es ist wichtig, ein Signal an die Gesellschaft zu senden. Wir bilden keine Fachidioten, sondern verantwortungsvolle Ingenieur*innen aus. In ihren Vorträgen zeigen die Studierenden den Zuhörer*innen, dass sie diese Personen wahrnehmen, ihre Ängste im Blick haben und wissen, welche Fragen sie stellen müssen. Die Studierenden werden zu einem Bindeglied zwischen Technik und Gesellschaft, das beide Sprachen spricht.

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