Im Gepäck: Rund 100 Interviews und 150 Kinderzeichnungen

Studierende der FH Münster kamen mit Koffern voller Daten von ihrer Feldforschung über bulgarische Roma zurück


Münster (26. Juni 2019). In Plovdivs Stadtteil Stolipinovo haben Studierende des Fachbereichs Sozialwesen zum Leben von Roma geforscht. Die Aufgabe im Seminar von Dr. Sebastian Kurtenbach: die Aspekte Diskriminierung, Armut und Teilhabe sowie Familienleben zu untersuchen. Bei ihrer Ankunft in Münster hatten sie eine Riesenmenge an Daten im Gepäck.

Nun ging es in einem viertägigen Workshop an die wissenschaftliche Auswertung. „Wir hatten im Vorfeld die bis zu eineinhalb Stunden dauernden Interviews bereits niedergeschrieben – allein ich hatte 20.000 Wörter auf 60 Seiten zu tippen. Im Workshop haben wir dann die Aussagen aus den Interviews mithilfe eines Computerprogramms kategorisiert in Aussagen zu Diskriminierungserfahrungen, Partizipationsmöglichkeiten, Selbstbild, Fremdbild und Kohäsion“, erzählt Sebastian Ritter, der sich in einem Team vor allem dem Aspekt von Diskriminierung gewidmet hat.

Interviewt hatten der Student im vierten Semester und seine Gruppe 20 Roma und 20 Mehrheitsbulgaren, also jene, die keinen Minderheiten angehören „und oft nicht einmal Roma persönlich kennen und nie in Stolipinovo waren“, sagt der 27-Jährige. Trotzdem äußerten sich die meisten von ihnen sehr abfällig. „Wir mussten einen neutralen Interviewstil finden, die Aussagen haben wir natürlich nicht bewertet“, sagt Ritter. Er und seine Kommilitonen haben vor der Reise im Seminar bei Kurtenbach und während ihres zehntägigen Aufenthalts in Workshops an der Universität in Plovdiv das nötige Wissen zu Feldforschung und Interviewtechnik erlernt. Viel Unterstützung haben sie zudem von Mirza Demirovic erhalten, der am Fachbereich einen Lehrauftrag zu Streetwork hat und mit nach Plovdiv gereist war, und von einem einheimischen Streetworker vor Ort.

„Die Geschichten der Menschen in Stolipinovo haben uns sehr berührt“, berichtet Ritter. „Es gab fast keinen, für den Diskriminierung nicht allgegenwärtig ist.“ Die Beispiele waren vielfältig: das Schwimmbad nicht betreten zu dürfen, der Busfahrer, der nur anhält, um durchs geöffnete Fenster „Scheißroma“ zu rufen, um dann den Schüler in Eiseskälte stehen zu lassen, das traurige Ende einer Liebe, weil die Freundin, eine „echte“ Bulgarin, dem Druck ihrer Familie nicht standhielt, verprügelt zu werden, weil man ins Fußballstadion möchte, keinen Job zu bekommen. Trotzdem seien Roma nicht voller Vorurteile gegenüber „allen Bulgaren“ und „allen Polizisten“, sondern hätten dazu differenziert geantwortet. „Überrascht hat uns auch“, erzählt Ritter, „wie gastfreundlich und aufgeschlossen die Menschen waren. Wir hatten den Eindruck, dass sie sich freuen, weil ihnen mal jemand zuhört.“

Das Leben in dem Viertel sei bunt und voller Kontraste: neben prunkvollen Häusern gibt es verfallene Hütten. Und es ist geprägt durchs Handwerk. „Jeder macht irgendwas: Es gibt eine kleine Bäckerei, Autowerkstätten, Schmieden.“ Erstaunt waren die Studierenden, dass alle Dortmund kennen – wegen der Borussen und weil aus jeder Familie irgendeiner in Dortmund arbeitet. „Genau das ist das Kennzeichen transnationaler Sozialräume“, so Kurtenbach. Der Soziologe verweist auf eine wichtige Erfahrung der Gruppe, die sich dem Familienleben widmete. Während die Frauen mit Einwegkameras in ihrem Stadtteil Orte fotografiert haben, die sie besonders oder gar nicht mögen, haben die Kinder ihre Familien gemalt. „Auffällig war, dass die Väter oft kleiner abgebildet waren oder ganz vergessen wurden, wenn sie im Ausland sind: Sie sind ja weit weg und verlieren im familiären Alltag an Bedeutung“, sagt Kurtenbach. Über die Fotos und Zeichnungen sind die Studierenden ins Gespräch gekommen und haben viel über Familien und die große Bedeutung von Arbeit erfahren: um finanziell über die Runden zu kommen.

Bei der Gruppe, die die Aspekte Armut und Teilhabe im Blick hatte, stellte sich in den Interviews heraus, dass Aspekte wie Bildung und Wohnen zwar wichtige Themen sind, die einzige wirklich erfolgsversprechende Option aber Migration ist. Außerdem wurde deutlich, wie unterschiedlich die Menschen in Stolipinovo sind, nicht nur in Bezug auf Einkommen und Bildung, sondern auch was ihre Zukunftsvorstellungen angeht. Daher könne man nicht von „den“ Roma sprechen.

Alle Daten sind nun sortiert. Der nächste Schritt wird sein, sie mit verschiedenen Methoden auszuwerten. Anschließend werden die Ergebnisse in je einem Forschungsbericht pro Gruppe zusammengefasst und auf dem Projektblog www.transnationalerraum.wordpress.com/ergebnisse veröffentlicht. „Dann haben wir Kenntnisse darüber, wie die Roma mit ihren Erfahrungen umgehen und ob diese ein Kollektivbewusstsein schaffen – oder aber das transnationale Leben zur Entfremdung innerhalb von Familien und zu einem Rückgang der Solidarität untereinander führt.

Die Ergebnisse wird das studentische Team am 18. Juli an der FH Dortmund vor Fachkräften der Sozialen Arbeit vorstellen. Denn in der Dortmunder Nordstadt leben Familienmitglieder aus Stolipinovo, und hier ist ein wichtiges Betätigungsfeld für Sozialarbeiter und Streetworker. Sebastian Ritter übrigens kann sich diesen Berufsweg ebenfalls vorstellen. Offen wäre er auch für Forschung. Beides hat er in diesem Seminar kennengelernt.


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