Rente in Deutschland: Soziologe plädiert für individuelle Lebensarbeitszeitmodelle
Tausende Menschen gehen in Frankreich auf die Straße, um gegen die Rentenreform zu protestieren. Dass sie kommt, ist beschlossene Sache – jetzt gab auch der Verfassungsrat grünes Licht. Wie es hierzulande mit der Rente aussieht, erklärt Prof. Dr. Mirko Sporket, Soziologe für Altern und Demografie an unserer Hochschule.

Prof. Dr. Mirko Sporket ist Dekan des Fachbereichs Sozialwesen und Soziologe für Altern und Demografie. (Foto: FH Münster/Wilfried Gerharz)
Prof. Sporket, unser Rentensystem ist darauf ausgelegt, mit 67 Jahren in den Ruhestand zu gehen und bis dahin im besten Fall Vollzeit gearbeitet zu haben. Was halten Sie davon?
Ehrlich gesagt nicht sonderlich viel, denn nicht alle Arbeitnehmerinnen und -nehmer schaffen es überhaupt, bis zum Renteneintritt zu arbeiten. In einem klassischen Bürojob mag das funktionieren, aber es gibt viele Tätigkeiten, die körperlich und psychisch sehr anstrengend sind. Da ist es kaum möglich, bis 67 zu arbeiten und oftmals führt der Weg in die Rente dann über die Erwerbsminderung. Wichtig ist aber auch noch ein anderer Aspekt. Gerade in der Lebensphase zwischen 30 und 40 Jahren passieren viele Dinge jenseits der Arbeit: Menschen gründen zum Beispiel eine Familie oder erwerben Eigentum, ab einem Alter von 50 Jahren werden möglicherweise die eigenen Eltern pflegebedürftig. Besonders in diesen Phasen wären Auszeiten oder Verschnaufpausen wichtig. Das sehen aber weder die Arbeitszeitmodelle in den Betrieben noch unser Rentensystem vor. Ich plädiere deshalb für flexible und individuelle Lebensarbeitszeitmodelle sowie für einen flexibilisierten Eintritt in die Rente.
Was genau meinen Sie damit?
Bei einem flexibilisierten Eintritt müsste sich an der Lebensarbeitszeit nichts ändern, doch die Arbeitszeit würde sich viel stärker an individuellen Lebensphasen und Bedürfnissen orientieren. Das bedeutet: Man arbeitet flexibel passend zum jeweiligen Lebensabschnitt. Um Auszeiten und Teilzeiten finanziell für die Rente auszugleichen, müsste man länger, aber auch passend zum Alter arbeiten. Das klingt jetzt einfach, ist aber sehr komplex, natürlich vor allem mit Blick auf die Frage, wie das finanziert werden soll, und funktioniert nicht ohne gesetzliche Regelungen, die es bisher nur in Ansätzen gibt. Außerdem gibt jede Menge Herausforderungen.
Welche wären das?
Wenn Menschen möglichst lang arbeiten sollen, muss Arbeit gesünder werden: Man muss den Job gern machen und machen können – ansonsten wird man krank. Deshalb ist es wichtig, dass Unternehmen unterschiedliche Karriereoptionen auch für ältere Menschen anbieten. Hier sehe ich großen Handlungsbedarf. Eine andere Herausforderung ist sicherlich die steigende Lebenserwartung. Menschen werden immer älter, gehen aber verhältnismäßig früh in Rente. Das anzupassen, wäre sinnvoll, auch vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels. Und dann ist natürlich die Kinderbetreuung ein großes Thema. Hier besteht eindeutig Nachholbedarf. Eine bessere Betreuung würde für mehr Entlastung sorgen und die Altersarmut bekämpfen. Denn noch immer arbeiten vor allem Frauen in Teilzeit, um sich um Kinder zu kümmern oder Angehörige zu pflegen. Und es sind dann vor allem Frauen, die von Altersarmut betroffen sind.
Die Französinnen und Franzosen reagieren sehr aggressiv auf die Rentenreform. Warum?
Das hat sicherlich auch gesellschaftspolitische Gründe, die jenseits der Rentenreform zu finden sind. Aber es geht natürlich um viel. Die Menschen in Frankreich gehen im Schnitt mit knapp 61 Jahren in die Rente und beziehen dann fast 75 Prozent ihres Einkommens und das wollen sie sich nicht nehmen lassen. Gleichzeitig ist aber auch klar, dass eine Reform notwendig ist, damit das System finanzierbar bleibt. Insofern ist der Schritt, das Renteneintrittsalter anzuheben, durchaus nachvollziehbar.
Wie geht es hierzulande weiter?
Entscheidungen zum Rentensystem sind in erster Linie politische Entscheidungen. Aus wissenschaftlicher Perspektive wäre sicher die weitere Flexibilisierung des Rentenzugangs wünschenswert, denn die sogenannte Flexi-Rente hat bislang noch keinen großen Einfluss auf das Rentengeschehen und die Rentenentscheidungen. Hierzu bedarf es aber dann auch einer anderen Arbeitszeitkultur in den Betrieben, die ein flexibilisiertes Arbeiten über den Erwerbsverlauf auch ermöglicht und fördert. Und vermutlich, sollte die Lebenserwartung weiter steigen, wie sie das in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten getan hat, wird auch kaum ein Weg an einer weiteren Verlängerung der Erwerbsphase vorbeiführen. Denn letztlich sieht unser Umlageverfahren vor, dass die heute Jüngeren die Renten der heute Älteren finanzieren. Demografisch befinden wir uns in unserer alternden Gesellschaft, nicht zuletzt aufgrund der großen Kohorte der Babyboomer, hier jedoch in einer Schieflage. Den Satz von Norbert Blüm „Die Rente ist sicher“ würde deshalb heute wohl kaum noch jemand unterschreiben.