Was ist eine Supply Chain?

Eine Supply Chain setzt sich aus autonom agierenden Einzelunternehmen zusammen, die im Sinne von Lieferketten systemisch verbunden sind. Wettbewerbsvorteile erlangen solche dezentral organisierten Systeme insbesondere durch eine marktadäquate Struktur (z.B. Produkte, Logistik, Geographie usw.) sowie durch eine überlegene Koordination und virtuelle, häufig vor​ allem informationelle Integration der autonom gesteuerten Aktivitäten in der Lieferkette. Insofern konkurrieren heute weniger einzelne Unternehmen miteinander, als viel mehr gut funktionierende Supply Chains. Dabei ist es aber keine Seltenheit, dass sich Unternehmen gleichzeitig in mehreren Lieferketten befinden. So sind beispielsweise Module von Bosch und Hella in Kraftfahrzeugen verschiedener Marken und Konzerne zu finden. ​

Fertigungstiefe

Supply Chains entwickeln sich durch die zunehmende Tendenz zur Konzentration auf Kernkompetenzen. Wurden bei der Erstellung des ersten Serienautomobils, Model T von Ford, lediglich Rohstoffe als Vorleistung beschafft, haben sich die Fertigungstiefen im Autobau in den siebziger und achtziger Jahren dramatisch verringert. Heute liegen sie bei rund 30 Prozent, wobei allerdings der Rückgang stagniert. Prognostiziert werden in dieser Branche dauerhaft gesättigte Fertigungstiefen von zwischen 25 und 30 Prozent.​

Die Fertigungstiefe (auch: Wertschöpfungstiefe) bezeichnet in der betrieblichen Wertschöpfungskette den Anteil der Eigenfertigung bei der Gütererstellung. Sie lässt sich ermitteln gemäß:​

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Formel zur Errechnung der Vertiegungstiefe

Wie werden Supply Chains organisiert?

Die große Herausforderung besteht darin, die auf verschiedene Unternehmen verteilte Wertschöpfung zusammen mit den Logistiksystemen zu koordinieren, und zwar zum Vorteil aller beteiligten Partner. Damit umfasst das "Supply Chain Management" die partnerschaftliche Planung, Steuerung und Weiterentwicklung von Lieferketten mit dem Ziel der Optimierung betrieblicher Ergebnisse sowie der Liquidität unter Beachtung sozialer und ökologischer Ziele.

Da sich die häufig vielen Unternehmen einer Supply Chain beim Management eng abstimmen müssen, kommt es oft zu der Schwierigkeit, alle Ziele und Interessen aufeinander abzustimmen. Dies wurde in den 90er-Jahren erkannt. Es konstituierte sich das Supply Chain Council (SCC), welches ein Standardmodell zur Beschreibung, Analyse und Gestaltung von Lieferketten entwickelte, das so genannte "Supply Chain Operation Reference (SCOR)"-Modell. Betrachtungsgegenstand ist die integrierte Lieferkette, in der z.B. die gesamte Kundeninteraktion, vom Auftragseingang bis zum Zahlungseingang, alle Materialbewegungen und Transformationen sowie jegliche Marktinteraktion vom Rohstofflieferanten bis zur Produktauslieferung an den Endkunden enthalten sind. Für die unterschiedlichen Formen von Supply Chains werden Handhabungsempfehlungen, Schnittstellenkonfigurationen, EDV-Protokolle, Vertragsvorschläge, Kennzahlensysteme zur Steuerung usw. zur Verfügung gestellt.

Auf der höchsten Ebene "top level" sieht das Modell für jede Wertschöpfungsstufe, d.h. für jeden einzelnen Betrieb, fünf Basis-Prozesse vor: Planung (Plan), Beschaffung (Source), Leistungserstellung (Make), Lieferung (Deliver) sowie Retouren (Return). Gleichzeitig sind damit die Schnittstellen zwischen den Wertschöpfungsstufen definiert. Über die Konfigurations- und die Gestaltungsebene wird das Modell immer konkreter, so dass für die Implementierungsebene Empfehlungen gegeben werden, wie eine individuelle, die Unternehmensspezifika berücksichtigende Umsetzung in Eigenverantwortung zu realisieren ist.

Das SCOR-Modell soll also Supply Chain Managern helfen, die schwierige Aufgabe der Gestaltung und des Betriebs einer Supply Chain zu bewerkstelligen. Ist ein Glied in der Lieferkette dominierend, werden Manager dieses Unternehmens in der Regel so genannte "Supply Chain Leader" oder Vorsitzende eines gemeinsamen "Supply Chain Committees" sein.

Darstellung des SCOR-Modells
Darstellung des SCOR-Modells

Praxisbeispiel

Im Geschäftsfeld "Siemens Medical Solutions" der Siemens AG werden Geräte zur Computer Tomographie vertrieben. Sie werden im "Make-to-Order"-Verfahren, also der auftragsbezogenen Fertigung, in Deutschland und China hergestellt (Order Penetration Point). Die Herausforderungen sind das globale Management von Kundenaufträgen, das komplexe Materialmanagement, die Steuerung der Fertigung nach Prioritäten, der weltweite Versand einschließlich der erforderlichen Logistik sowie die Installation beim Kunden vor Ort. Während Siemens in diesem Markt der klare Innovationsführer war und ist, waren die Abwicklungsprozesse vor der SCOR-Initiative geprägt durch bürokratische Prozesse (stromaufwärts zum Lieferanten ebenso wie stromabwärts zum Kunden), lange Wartezeiten für die Kunden, hohe Bestände und damit hohe Kosten (Verschwendung). Es fehlte jegliches Verständnis, wie kundenorientierte Prozesse aussehen sollten, geschweige denn, wie sie umzusetzen sind.

Der SCOR-Prozess hat unmittelbar zur Bewältigung dieser Probleme beigetragen. So wurde das Management der Auftragsabwicklungs-prozesse von fragmentierten und proprietären Lösungen migriert in ein globales Order Management. Die Beschaffung wurde schlanker gestaltet; beispielsweise wurde die Zahl der A-Lieferanten von vorher 250 konsequent auf 22 reduziert (ABC-Analyse). Die Fertigung kleiner Stückzahlen konnte so reorganisiert werden, dass Kundenwünsche noch besser und vor allem in kürzerer Vorlaufzeit berücksichtigt werden konnten. Durch strategische Partnerschaften mit qualifizierten Dienstleistern weltweit kann nun die schnelle Installation der Systeme vor Ort sichergestellt werden. Die Prozesse rund um die Rückführung ausrangierter Anlagen wurden institutionalisiert, standardisiert und transparent gemacht.

Die erzielten Effekte waren erstaunlich. Die Lieferzeit nach Auftragseingang konnte von 22 auf zwei Wochen reduziert werden. Zwei Fertigungslinien konnten durch die Reorganisation den Output realisieren, für den zuvor vier Anlagen eingesetzt wurden. Gleichzeitig wurde die Durchlaufzeit der Fertigung von 13 auf sechs Tage verkürzt. Nachfrageschwankungen konnten flexibel aufgefangen werden; Schwankungen von plus/minus fünfzig Prozent können durch zeitliche und intensitätsmäßige Anpassung kurzfristig berücksichtigt werden (Produktionsgeschwindigkeit). Das Ausgangslager wurde aufgelöst; die fertigen Anlagen wurden direkt versendet. Kunden können nun den gesamten Auftragsfortschritt einschließlich der Spedition online nachverfolgen.

(In Anlehnung an Slack et al., 2009)

Warum ist die enge Abstimmung erforderlich?​

Durch die Verteilung von Wertschöpfungsstufen auf mehrere unabhängige Unternehmen besteht die Gefahr, dass die einzelnen Glieder der Lieferkette proprietäre Optimierungen vornehmen, sich also nicht untereinander abstimmen. Insbesondere, wenn der Handel Element der Lieferkette ist, ergeben sich große Risiken, welche unter dem Phänomen des "Peitscheneffekts" (englisch "bullwhip effect") bekannt sind.​

Angenommen, ein Einzelhändler stellt fest, dass er in der vergangenen Periode die Nachfrage nach einem Gut nicht voll bedienen konnte. Zudem nimmt er an, dass in seinem Einzugsgebiet die Nachfrage nach dem Produkt weiter steigen wird. Als Konsequenz wird er nun eine größere Menge bestellen und sein Lager füllen (so genanntes "forward buying"). Der Großhändler liefert die Ware und erkennt, dass hier ein größerer Bedarf entstanden ist. Um sicher zu sein, dass er auf weiter steigende Bestellungen zeitnah reagieren kann, bestellt er eine entsprechend​ größere Menge bei dem Hersteller. Dieser reagiert seinerseits mit der Planung der Fertigung zusätzlicher Lose, woraufhin beim Zulieferer entsprechende Mengen geordert werden.

Diese Reaktionen in der Lieferkette entstehen jeweils mit einem Zeitverzug. Die bestellten Mengen erhöhen sich von Stufe zu Stufe um Sicherheitsmengen. Insgesamt schaukelt sich das Mengensystem stromaufwärts auf. Sollte die erwartete Nachfrage der Konsumenten nicht eintreten, ist die Lieferkette mit Aufträgen versehen, welche nicht zum Verkauf führen.​
Der Peitscheneffekt konnte bereits in verschiedenen Branchen festgestellt werden, z.B. in der Konsumgüter (Procter & Gamble, Campbell Soup), Elektronik (Hewlett-Packard, IBM, Motorola), Automobil (Generla Motors), Pharma (Eli Lilly). Eine eng koordinierte Supply Chain unter Einsatz aufeinander abgestimmter IT-Systeme kann diesen beschriebenen Effekt verhindern.

Darstellung des Peitscheneffekts in der Supply Chain
Der Peitscheneffekt in der Supply Chain

Efficient Replenishment

Das Konzept des Efficient Replenishment wurde als Element der Efficient Customer Response (ECR) ursprünglich für den Lebensmitteleinzelhandel konzipiert, gewinnt jedoch heute für fast alle Handelsbranchen sowie für die Industrieunternehmen, die solche Absatzkanäle nutzen, zunehmend an Bedeutung. Das Efficient Replenishment beschreibt die Zusammenarbeit zwischen Industrie und Handel, um durch eine zwischenbetriebliche Optimierung Ressourcenersparnisse zu erzielen.
Das Ziel dieses Konzeptes ist es, den Absatzweg vom Hersteller über den Handel bis hin zum Endverbraucher in seiner Gesamtheit zu optimieren, um die Bedarfe der Abnehmer zu ermitteln und sie anschließend best- und schnellstmöglich zu befriedigen. Voraussetzung ist die Abstimmung des gesamten Waren- und Informationsflusses in Form von Scannersystemen und elektronischen Vernetzungen. Dieser Ansatz steht damit unmittelbar mit der Gestaltung der Supply Chain in Verbindung. Der Grundgedanke ist dabei, dass sich die Optimierungsmaßnahmen nicht nur auf ein einzelnes Unternehmen beziehen, sondern die komplette Versorgungskette mit einbezogen wird. Dadurch sollen die Kundenwünsche besser berücksichtigt und der Bullwhip-Effekt reduziert werden.

Welche Effekte erzielt ein Supply Chain Management?

Dem Supply Chain Management werden erhebliche Verbesserungspotenziale zugeschrieben. So hat IBM innerhalb eines Geschäftsjahres Kosteneinsparungen in Höhe von sieben Milliarden US-Dollar, Wal Mart in Höhe von 25 Prozent realisiert. Die Beratungsgesellschaft PRTM/pwc will folgende möglichen Effekte über die gesamte Lieferkette festgestellt haben (alle Zahlen aus Werner, 2013, S. 1):

  • Lagerbestände: Reduktion um 50 bis 80 Prozent
  • Liefertreue: Erhöhung um 10 bis 25 Prozent
  • Überfällige Bestellungen: Rückgang um 70 bis 90 Prozent
  • Auftragsabwicklungszeit: Reduktion um 40 bis 75 Prozent
  • Gemeinkosten: Senkung um 10 bis 30 Prozent
  • Herstellzyklen: Verkürzung um 30 bis 90 Prozent

In ihrer empirischen Untersuchung identifizierten Bolstorff et al. (2007) sechs Möglichkeiten zur Umsatz- bzw. Gewinnsteigerung durch ein SCOR-basiertes Supply Chain Management: Verringerung entgangener Aufträge, Reduktion der Durchlaufzeit der Auftragsabwicklung, ständige Verfügbarkeit der Lagerbestandszahlen in Echtzeit, Vermeidung nachträglicher Änderungen von Bestellaufträgen, Reduktion inaktiver Lagerbestände, Reduktion der Prozesskosten in der Beschaffung (Verschwendung). Insgesamt ermittelten die Autoren ein Umsatzwachstumspotenzial von drei Prozent.

Wenngleich nicht immer eindeutig und allein dem Supply Chain Management diese Erfolge zugeschrieben werden können, so bringt die bewusste Gestaltung der Lieferkette zusammengefasst doch erhebliche Möglichkeiten.

Praxisbeispiel

In Hotels stellt die Bestückung der Minibar und die Abrechnung daraus entnommener und konsumierter Produkte eine unverhältnismäßig große Herausforderung dar. Verschiedene Prozesse müssen aufeinander abgestimmt werden. Gleichzeitig sollten die Abläufe den Gast nicht stören, und trotzdem ist sicherzustellen, dass die konsumierten Produkte auch fakturiert und bezahlt werden.
In einigen Hotels gibt es inzwischen elektronische Minibars. Bei Entnahme eines Produktes gibt es ein Signal an eine Datenbank, die diese Entnahme registriert. Diese Information wird in drei Prozessen genutzt: 1. zur Buchung auf das Kundenkonto, 2. zur Beauftragung des Zimmermädchens mit dem Auffüllen der Minibar mit einem definierten Produkt, 3. zur Verrechnung einer Entnahme im Zentrallager und ggfs. zur Weiterleitung dieser Information an den Getränkelieferanten.

In einer Supply Chain wird die durch die Minibar erzeugte Information in der Wertschöpfungskette stromaufwärts weitergeleitet. Dazu erfolgt in der Regel auf jeder Wertschöpfungsstufe, egal ob es sich um eine Fertigungs- oder eine Logistik- bzw. Handelsleistung handelt, eine Aggregation gleichartiger Informationen zum Zweck der Bündelung von Mengen. Der Einfluss der Entnahme eines Bieres aus der Minibar auf die Prozesse einer Brauerei werden modellhaft in folgender Abbildung wiedergegeben, die sich am linken Rand oben stehender Abbildung anschließen lässt.​

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Literatur

Bolstorff, P.A.; Rosenbaum, R.G.; Poluha, R.G. (2007): Spitzenleistungen im Supply Chain Management - Ein Praxishandbuch zur Optimierung mit SCOR. Berlin, Heidelberg. Springer.

Hahn, D. (2002): Problemfelder des Supply Chain Managements. In: Krystek, U.; Zur, E. (Hrsg.): Handbuch Internationalisierung. 2. Auflage. Wiesbaden. Springer. S. 471-480.

Werner, H. (2013): Supply Chain Management - Grundlagen, Strategien, Instrumente und Controlling. 5. Auflage. Wiesbaden. Springer Gabler.

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