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Korruption und unethisches Handeln in Berufsfeldern der Sozialen Arbeit

Korruption und unethisches Handeln im Sozialwesen?


Korruption und unethisches Handeln in Berufsfeldern der Sozialen Arbeit - gibt es das überhaupt? Gilt das Soziale doch als Arbeitsbereich, in dem das Bedürfnis zu helfen, Orientierung am Gemeinwohl und altruistische Motivationsfaktoren Teil des beruflichen Anforderungsprofils sind. Unethisches Handeln scheint per Definition im Widerspruch zum Wesen des Sozialen zu stehen. Größere Relevanz, so die Auffassung, besitzt die Thematik in klassischerweise marktwirtschaftlich orientierten Bereichen. Dort, wo Effizienz zur Maxime erhoben wird, vermutet man weit eher Formen unethischen Verhaltens.

Doch auch im Sozialwesen muss heute effizient und marktorientiert gearbeitet werden. Dort machen es immer knappere Budgets und steigende Anforderungen nötig, nach wirtschaftlichen Prinzipien zu arbeiten. Viele soziale Einrichtungen verstehen sich heute als Dienstleister. Längst konkurrieren sie mit überregionalen Anbietern um Geldgeber und Aufträge. Wo das Budget fehlt, verliert das soziale Ziel an Bedeutung. Wer nicht mit Zahlen argumentiert, wird es in Zukunft immer schwerer haben.

Damit verändert sich auch das Arbeitsumfeld in den Berufsbereichen der sozialen Arbeit. Sozialarbeiter sehen sich mitunter unerwarteten Zwängen ausgesetzt. Sie sollen gewinnorientiert denken und handeln, obwohl sie eigentlich Menschen helfen wollen. Wie verhält man sich etwa in der Familienhilfe, wenn das Kind noch schreit, obwohl die entlohnte Betreuungszeit vorbei ist: Bleiben auf eigene Kosten oder Gehen mit schlechtem Gewissen? Beides macht unzufrieden und fördert negative Emotionen gegenüber dem Arbeitgeber. Der Zwiespalt ist schwer überwindbar. Aus der Forschung ist bekannt, dass negative Emotionen ein Hauptmotiv unethischer Verhaltensweisen am Arbeitsplatz sind. Die denkbaren Facetten unethischen Verhaltens in der Sozialen Arbeit sind vielfältig: Vom Zusatzentgelt für Sterbebegleitung oder Adoptionsvermittlung über Einflussnahme bei der Vergabe von Aufträgen, beispielsweise in Jugendhilfe oder Sozialausschuss, bis hin zur medizinisch nicht gerechtfertigten Darreichung von Beruhigungsmitteln, um psychisch kranke oder auffällige Menschen ruhig zu stellen.

In ihrem Forschungsprojekt am Fachbereich Sozialwesen machen sich Professorin Dr. Ruth Linssen, und ihre wissenschaftliche Mitarbeiterin Ilka Kammigan auf die Suche nach Faktoren, die unethisches Verhalten am Arbeitsplatz begünstigen können. Aufbauend auf den Erkenntnissen des Forschungsprojekts sollen Präventionskonzepte für Praxisfelder und Lehre der Sozialen Arbeit entwickelt werden, die unethischem Verhalten am Arbeitsplatz vorbeugen.

 

Für die Entwicklung von Präventionskonzepten, die auf die speziellen Bedürfnisse der Sozialen Arbeit ausgerichtet sind, ist es zunächst wichtig, Erkenntnisse zu den Erscheinungsformen unethischen Handelns in Berufsfeldern dieses Bereichs und zu den Unterschieden zu anderen Bereichen zu gewinnen. Zu diesem Zweck wurden über einen explorativen, qualitativen Ansatz Berufstätige in Organisationen des Sozialwesens zu persönlichen Erfahrungen mit entsprechenden Vorfällen befragt. Hierbei fanden sich vor allem auch empirische Hinweise auf solche Formen unethischen Verhaltens, die sich mit der Definition des Bundeskriminalamtes (2010: 4; vgl. dazu auch die Seite des Kooperationsprojekts zwischen der FH Münster und dem Landeskriminalamt Niedersachsen zu Korruption in der Polizei: https://www.fh-muenster.de/fb10/forschung/projektseiten/korruptionspraevention_in_der_polizei/korruptionspraevention.php) bereits als Korruption bezeichnen lassen (ausführlicher zu diesen Ergebnissen Linssen et al. 2012). Unethisches und korruptes Verhalten findet also tatsächlich auch im Bereich der Sozialen Arbeit statt, wird jedoch nicht immer von den Beteiligten als solches erkannt. Um ein präziseres Bild der Erscheinungsformen von Korruption im Sozialwesen und ihren Besonderheiten zeichnen zu können, werden die Erhebungen aktuell in einer zweiten Welle fortgeführt.

Ein zweiter wichtiger Bestandteil der Projektarbeit ist die Suche nach den Bedingungsfaktoren unethischen Verhaltens. Als theoretische Basis dienen insbesondere die Annahmen der Situational Action Theory (SAT) von Wikström und Kollegen (z.B. Wikström 2010). Diese allgemeine Kriminalitätstheorie integriert sowohl Personen- als auch Situationsfaktoren in einem handlungstheoretischen Modell; und obwohl gerade diese Kombination in der Korruptionsforschung für besonders relevant erachtet wird, wurde die noch relativ junge Theorie dort unseres Wissens bisher nicht explizit angewendet. Darüber hinaus wird die SAT im Projekt vor allem auch mit der Institutionellen Anomietheorie (Messner/Rosenfeld 2007) kombiniert, die wiederum einen Beitrag zur Erklärung des eher indirekten Einflusses zunehmender Ökonomisierung auch in nichtwirtschaftlichen Bereichen (wie dem Sozialwesen) erlaubt. Erfasst werden so im Projekt neben Personenfaktoren, wie Haltung oder Berufsethos eines Mitarbeiters, auch Organisationsfaktoren, die typisch sind für Berufsfelder der Sozialen Arbeit und die im Verdacht stehen, unethisches Verhalten zu bedingen. Insgesamt kann so die theoretische Projektarbeit nicht nur dem Aufspüren von Ursachen korrupten und korruptionsähnlichen Verhaltens speziell im Sozialwesen dienen, sondern nebenbei auch einen wertvollen Beitrag zur Korruptionsforschung insgesamt leisten.

Neben den moralischen Standards von Umfeld und handelnder Person spielen in der SAT unter anderem auch Kontrollen eine wichtige Rolle: So wird unethisches Verhalten umso wahrscheinlicher, je weniger Kontrollen vorhanden sind. Soziale Kontrolle geschieht vor allem auch durch das Meldeverhalten von Mitwissern, durch das sogenannte „Whistleblowing". Die Erhöhung informeller Kontrollen ist demnach für die Prävention solcher Verhaltensweisen von Bedeutung, kann zugleich aber auch zur Aufhellung des großen Dunkelfelds unentdeckt gebliebener Fälle beitragen (zur einer weiteren Strategie der Dunkelfeldaufhellung Linssen et al. 2011). Um nun auch die Bedingungsfaktoren für das Meldeverhalten systematisch untersuchen und so schließlich gezielt Strategien zur Erhöhung informeller Sozialkontrolle entwickeln zu können, wurde aufbauend auf der weiteren empirischen Forschung zum Thema, den Ergebnissen aus eigenen Voruntersuchungen (in Kooperation mit der Hochschule Hannover und der Niedersächsischen Hochschule für kommunale Verwaltung) und Diskussionen mit Experten außerdem ein entsprechendes Kausalmodell entwickelt, das die wichtigsten potenziellen Einflussfaktoren und hypothetischen Wirkungsbeziehungen enthält.

Aktuell werden im Projekt die möglichen Ursachen für unethisches Verhalten, aber auch die Bedingungen des Meldeverhaltens empirisch genauer unter die Lupe genommen. Mit Hilfe qualitativer Befragungen wird sowohl explorativ als auch hypothesenprüfend nach den Gründen für das Meldeverhalten und für das unethische Verhalten selbst gefahndet.

 

Literatur

Bundeskriminalamt (2010). Korruption. Bundeslagebild 2009 - Pressefreie Kurzfassung. Wiesbaden: Bundeskriminalamt.

Linssen, R./Meyer, M. (2017). Korruption verstehen: Ein projektorientiertes Lernkonzept zur Sensibilisierung für und Erfassung von Korruption. P. Graeff/S. Wolf (Hrsg.): Korruption und Korruptionsbekämpfung - Die Vermittlung in Lehre, Unterricht und Weiterbildung. Wiesbaden: Springer VS

Linssen, R./Meyer, M. (2017). Wehrmauer oder Wegbereiter? Wie Führung in der öffentlichen Verwaltung Korruption verhindern, aber auch auslösen kann. In: S. Jung & S. Friedrichs (Hrsg.): Antikorruption und Leadership. Band 3 der Reihe Management - Ethik - Organisation. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht.

Litzcke, S. M., Linssen, R. & Hermanutz, M. (2017). Hannoversche Korruptionsskala (HKS 38): Messung der Einstellung zu Korruption. In: S. Jung & S. Friedrichs (Hrsg.): Antikorruption und Leadership. Band 3 der Reihe Management - Ethik - Organisation. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht.

Linssen, R. (2016). Soziales Risikomanagement - Wann Menschen korrupt werden und wie der Compliancebereich das Wissen darüber nutzen kann. Compliance Berater 3/2016Linssen, R. /Kammigan, I. (2014). Heiligt der Zweck die Mittel? Korruptes und anderes sozialschädliches Verhalten im Sozialwesen. Soziale Arbeit 63.Jg. (9).

Linssen, R., Litzcke, S. M. & Schön, F. (2015). Auf einem Auge blind - Korruptionsbekämpfung läuft oft ins Leere, weil informelle psychologische und soziale Prozesse ignoriert werden. Zeitschrift für Risk, Fraud & Compliance (ZRFC), 10. Jg (1+2).

Linssen, R.& Kammigan, I. (2012). Korruption als ‚Situational Action'. Eine theoretisch-integrative Erklärung korrupten Verhaltens auf Basis der ‚Situational Action Theory'. Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, 95.Jg. (5).

Linssen, R., Schön, F. & Litzcke, S. (2012). Korruption: Dunkelfeldaufhellung mit virtuellen sozialen Netzwerken. Polizei & Wissenschaft, 11 (3), 2-12.

Linssen, R., Schön, F. & Litzcke, S. (2012). "Man kennt sich, man hilft sich" oder doch schon Korruption? Empirische Hinweise zu fragwürdigen Praktiken im Sozialwesen. Neue Praxis, 42, 27-43.

Messner, S. F. & Rosenfeld, R. (2007). Crime and the American dream. Belmont, CA: Wadsworth.

Wikström, P.-O. H. (2010). Explaining crime as moral actions. In S. Hitlin & S. Vaisey (Hrsg.), Handbook of the sociology of morality. New York: Springer, 211-239.

 

 

 

 

Projektleitung


Prof. Dr. Ruth Linssen M.A.
Fachbereich Sozialwesen
Friesenring 32
48147 Münster
Tel: 0251 83-65819
Fax: 0251 83-65702

linssenfh-muensterde

Mitarbeitende


  • M.A. jur. Ilka Kammigan

Projektzeitraum


seit 01.04.2010

Kooperationspartner


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